Einleitung
Ende März hat sich das Bundeskabinett auf die Einführung einer neuartigen Verbraucher-Sammelklage, die sogenannte Abhilfeklage, verständigt. Damit soll die europäische Verbandsklagerichtlinie (Richtlinie (EU) 2020/1828 für Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG) in deutsches Recht umgesetzt werden. Dies hätte eigentlich bereits bis zum 25.12.2022 geschehen müssen, weshalb zuletzt die Gefahr eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland im Raum stand. Auch wenn der Regierungsentwurf noch die erforderlichen parlamentarischen Hürden nehmen muss, steht wegen dieses Zeitdrucks zu erwarten, dass die Umsetzung in deutsches Recht bis spätestens 25.06.2023 erfolgt sein wird und das Gesetz dann in Kraft treten kann.
Was ist die neue Abhilfeklage?
Die Abhilfeklage ist Bestandteil des neuen Gesetzes zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherrechten (Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz – VDuG). Dort werden alle Verbandsklagen geregelt einschließlich der bereits bekannten Musterfeststellungsklage, die aus der ZPO in das VDuG „wandert“.
Im Unterschied zur Musterfeststellungsklage können bei der Abhilfeklage qualifizierte Verbände und staatlich finanzierte Verbraucherzentralen Ansprüche von Verbrauchern und kleinen Unternehmen bündeln und – das ist der entscheidende Unterschied – auf Leistung klagen. Anders als bei der Musterfeststellungsklage, die darauf gerichtet ist festzustellen, dass Verbrauchern ein bestimmter Anspruch zusteht, aber die betroffenen Verbraucher nach einem positiven Urteil ihre individuellen Ansprüche noch einzeln durchsetzen müssen, eröffnet die Abhilfeklage die Möglichkeit, in ein und demselben Rechtsstreit über kollektive Forderungen individuelle Leistungsansprüche zu titulieren. Mit der Abhilfeklage existiert somit (erstmals) eine echte Sammelklage.
Nach einer Einschätzung des Bundesjustizministeriums sollen damit einerseits Verbraucher schneller zu ihrem Recht kommen, andererseits soll die Justiz von zahlreichen Individualklagen in Massenverfahren entlastet werden und vermeintlich soll die Reduzierung von Rechtsstreitigkeiten auch zu Kostenentlastungen bei anspruchsberechtigten Verbrauchern und beklagten Unternehmen führen.
Die wichtigsten Punkte
Klageberechtigt sind entsprechend qualifizierte Verbraucherverbände, aber auch qualifizierte Einrichtungen aus anderen EU-Staaten.
Zuständig für Verbandsklagen ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk sich der allgemeine Gerichtsstand des beklagten Unternehmens befindet. Gegen Abhilfeendurteile findet die Revision zum Bundesgerichtshof statt, die keiner Zulassung bedarf. Damit gibt es nur zwei Instanzen, von denen allein die erste eine Tatsacheninstanz ist.
Die Abhilfeklage steht Verbrauchern zu. Ihnen geleichgestellt sind Kleinunternehmen, das heißt Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigen und Jahresumsatz oder Jahresbilanz von nicht mehr als 10 Mio. EUR.
Damit Verbraucherverbände klagen können, müssen die Ansprüche von mindestens 50 Verbrauchern betroffen sein.
Während nach der EU-Richtlinie das Verbandsklageverfahren nur bei Verletzung von bestimmten Verbraucherschutzbestimmungen des EU-Rechts, einschließlich der nationalen Umsetzungsnormen, zur Verfügung stehen muss, ist der deutsche Gesetzgeber über diesen Mindeststandard hinausgegangen. Nach dem deutschen Regierungsentwurf ist die Abhilfeklage in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmern zulässig, sodass auch allgemeine deliktische Ansprüche (zum Beispiel in den sogenannten „Diesel“-Fällen) Gegenstand von Abhilfeklagen sein können.
Die Abhilfeklage kommt aber nur bei der Geltendmachung gleichartiger Ansprüche in Betracht. Dabei ist ein Grad an Ähnlichkeit der Ansprüche erforderlich, der eine schablonenhafte Prüfung zulässt. Dieses Kriterium wird eine Stellschraube sein, die darüber entscheiden wird, wie eng oder breit der Anwendungsbereich der Abhilfeklage in Zukunft sein wird. Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung diese Voraussetzung näher definieren wird.
Grundsätzlich ist die Finanzierung der Klage auch durch Dritte möglich, jedoch darf sich niemand finanziell beteiligen, der ein Wettbewerber des beklagten Unternehmens oder in sonstiger Weise von dem Wettbewerber abhängig ist.
Verbraucher, die am Verfahren der Abhilfeklage teilnehmen wollen, müssen sich zum Verbandsklageregister, das vom Bundesamt für Justiz geführt wird, anmelden. Während der Referentenentwurf noch vorsah, dass die Anmeldung bis spätestens einen Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung hätte erfolgt sein müssen, sieht der Regierungsentwurf nunmehr vor, dass die Anmeldung sogar bis zu zwei Monate nach dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung ausreichend ist. Damit werden die Äußerungen des zuständigen OLG-Senats in der mündlichen Verhandlung erheblichen Einfluss haben, ob sich gegebenenfalls noch zunächst unentschlossene Verbraucher zum Verbandsklageregister anmelden oder nicht.
Das gerichtliche Verfahren der Abhilfeklage gliedert sich in drei Phasen:
- 1. Phase: Der klageberechtigte Verband kann ein Abhilfegrundurteil erwirken, das die Haftung des verklagten Unternehmens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und festlegt, welche Berechtigungsnachweise Verbraucher erbringen müssen, und das für den Fall von Zahlungsansprüchen zugleich Parameter für die konkrete Berechnung der Ansprüche bestimmt.
- 2. Phase: Es folgt eine Vergleichsphase, in der eine gütliche Einigung über die Abwicklung des Rechtsstreits angestrebt werden soll.
- 3. Phase: Schließen die Parteien keinen Vergleich, entscheidet das Gericht durch ein Abhilfeendurteil.
An das gerichtliche Verfahren schließt sich das Umsetzungsverfahren an. Ist im Abhilfeendurteil ein kollektiver Gesamtbetrag für die Anspruchssteller ausgeurteilt worden, ist dieser Betrag vom verurteilten Unternehmen in einen Umsetzungsfonds einzuzahlen. Das Gericht kann den kollektiven Gesamtbetrag unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung bestimmen. Dabei ist eine Schätzung möglich, bei der das Gericht einen denkbaren Höchstbetrag zugrunde legen kann.
Der ausgeurteilte Gesamtbetrag ist allerdings nur vorläufiger Natur. Wenn der Betrag nicht ausreicht, um alle Anspruchssteller zu befriedigen, kann er auf Antrag nachträglich erhöht werden. Stellt sich nach Befriedigung aller Ansprüche heraus, dass der Betrag zu hoch ist, wird der Restbetrag wieder an das verurteilte Unternehmen ausgekehrt.
Mit der Verteilung des Gesamtbetrages an die Anspruchssteller wird ein sogenannter Sachwalter beauftragt. Der Sachwalter prüft die individuelle Berechtigung der Anspruchsteller und befriedigt deren Ansprüche aus dem Gesamtbetrag.
Gegen Entscheidungen des Sachwalters können sowohl betroffene Verbraucher als auch das Unternehmen Widerspruch einlegen; die Entscheidung des Sachwalters über den Widerspruch ist unanfechtbar. Ein abgewiesener Verbraucher kann seinen Anspruch im Wege der Individualklage verfolgen. Entsprechendes gilt für Einwendungen des Unternehmens gegen den in der Abhilfeklage geltend gemachten Anspruch selbst, soweit die Einwendungen nicht im Abhilfeklageverfahren bereits hätten geltend gemacht werden können (Präklusion).
Die Kosten des Umsetzungsverfahrens einschließlich der Vergütung des Sachwalters sind vom verurteilten Unternehmen zu tragen.
Praxishinweis
Aus Unternehmenssicht steckt das größte Bedrohungspotential der Abhilfeklage in der Breite der Ansprüche, die mit ihr geltend gemacht werden können; denn sie ist nach dem Entwurf der Bundesregierung für sämtliche „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ eröffnet, „die Ansprüche und Rechtsverhältnisse einer Vielzahl von Verbrauchern gegen einen Unternehmer betreffen“. Solche Ansprüche können zum Beispiel resultieren aus Schäden wegen fehlerhafter Produkte oder wegen Verbrauchertäuschung („Diesel“-Fälle – jetzt nach § 9 Abs. 2 UWG zu beurteilen). Da Kleinunternehmen Verbrauchern gleichgestellt werden, kommen auch Kartellschadensersatzansprüche als Gegenstand einer Abhilfeklage in Betracht.
Mit Einführung dieser neuen Sammelklage in Deutschland ist es wichtiger denn je, dass Unternehmen ihre Produktions- und sonstigen Compliance-Prozesse optimieren, um nicht zum Ziel einer Abhilfeklage zu werden.
Fazit
Während die Musterfeststellungsklage, die keine Verurteilung zur Leistung ermöglicht, nur geringeres Interesse gefunden hat, ist zu erwarten, dass sich die Abhilfeklagen für die Klägerseite als deutlich attraktiver herausstellen wird. Das Bundesjustizministerium erwartet 15 Abhilfeklagen jährlich, die rechnerisch 22.500 Individualklagen ersetzen sollen.
Die Abhilfeklage ist ein nicht unkompliziertes Verfahren, das aber gerade in Fällen mit einer Vielzahl von Betroffenen zu einem schnelleren und vermutlich auch kostengünstigeren Ergebnis führen kann. Allerdings schließt die Abhilfeklage die Möglichkeit von sogenannten „Sammelinkassoklagen“, bei denen zahlreiche individuelle Ansprüche an ein sogenanntes „Klagevehikel“ abgetreten werden, ebenso wenig aus wie massenhaft erhobene Individualklagen, sodass sich der angestrebte Entlastungseffekt für die Justiz und die Parteien erst noch erweisen muss.
Hinweis
Wir möchten darauf hinweisen, dass die allgemeinen Informationen in diesem Newsletter eine Rechtsberatung im Einzelfall nicht ersetzen.